Montag, 29. Juni 2009

Philip K. Dicks „Colony“. Besessenheit und „lebende“ Objekte

Da die Einzeller auf diesem Planeten die Haushaltsgegenstände kopieren bzw. nachahmen besetzen sie die Plätze der „Originale“, aber es kommt nicht zu einer Besessenheit in dem Sinne, dass hier Besitz von einem Körper ergriffen wird oder das eine Übernahme der Körper statt findet. Die organische Lebensform übernimmt hier nur den äußeren Anschein von Alltagsgegenständen und lässt sie „lebendig“ werden, um die Menschen anzugreifen. Während die Alltagsgegenstände selbst noch immer unschuldig und unbeteiligt daneben liegen.

Zu Beginn der Geschichte gehen deswegen die Menschen davon aus, dass die seelenlosen Objekte plötzlich lebendig werden.
„Ordinary objects suddenly turned lethal.“ i.
Dieses Motiv der Beseelung von Gegenständen ist keinesfalls von Dick neu geschaffen, sondern schon aus Werken anderer Autoren bekannt. Sigmund Freud, der ja viele seine Theorien durch literarische Werke untermauert oder von ihm beobachtete Phänomene nach literarischen Vorlagen benennt, hat sich in seinem 1919 veröffentlichten Aussatz „Das Unheimliche“ mit dieser Verlebenigung von Alltagsgegenständen beschäftigt.

Freud und die psychoanalytische Literaturinterpretation

Doch zuvor noch eine Anmerkung zu Freuds literarischem Interesse. 1907 hielt Freud einen Vortrag unter dem Titel „Der Dichter und das Phantasieren“ ii. in den Räumen des Wiener Verlagsbuchhändlers Hugo Heller. In diesem Vortag beschreibt er das Phantasieren des Dichters (also den schöpferischen Akt des Geschichtenerzählens) als eine Ersatzhandlung für den Lustgewinn, den Kindern beim Spielen erfahren. Erwachsene phantasieren, denken sich Geschichten aus und verlieren sich laut Freud in Tagträume, da sie nicht mehr wie Kinder spielen dürfen. Kinder haben demnach die Möglichkeit ihre Wünsche (z.b. den Wunsch des Erwachsenwerdens) frei im Spiel auszuleben. Die Wirklichkeit und das Spiel sind selbst hier für die Kinder klar getrennt, obwohl es sehr Affektbeladen ist und dadurch von den Kindern ernst genommen wird.

Der Erwachsene schämt sich des Phantasierens, weil es als kindisch und unerlaubt bewertet wird und weiß, dass von ihm erwartet wird in der wirklichen Welt zu handeln. Was den Dichter nun von den anderen Erwachsenen unterscheidet ist, dass er seine Phantasien so formulieren kann, dass sie als nicht peinlich wahrgenommen werden. Durch Verhüllung und Abänderung wird der Charakter des egoistischen Tagtraumes abgemildert und bringt dem Leser einen ästhetischen Lustgewinn.

Die psychoanalytische Literaturinterpretation geht aber keinesfalls davon aus, dass der Autor sein psychologisches Wissen bewusst in seine Texte einarbeitet. Vielmehr geht man davon aus, dass der Autor intuitiv bzw. unbewusst Beispiele für psychoanalytische Phänomene liefert, indem das Unbewusste des Autors das Unbewusste des Helden verstehen und nachvollziehen kann.

Das Unheimliche in „Colony“

In Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ beschäftigt er sich mit mehreren Phänomenen die als unheimlich bezeichnet werden können, für unsere Untersuchung interessant ist aber nur die Beseelung von Gegenständen. Doch bevor Freud auf einzelne Aspekte des Unheimlichen eingeht, stellt er seiner Arbeit eine ungewöhnlich lange Begriffsdiskussion des Wortes „unheimlich“ voran. Einer der Definitionsvorschläge Freuds ist:
"Das Unheimliche ist (...) also auch (...) das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe 'un' an diesem Wort ist aber die Marke der Verdrängung." iii.
Das Unheimliche ist demnach also etwas allen Menschen vertrautes, das aber vom Bewusstsein des Menschen verdrängt wird, und durch die Konfrontation mit dem Verdrängten eine beängstigende Form annimmt.
Der Aspekt des Unheimlichen, der uns hier interessiert, wird von Freud als
"Zweifel (...) ob ein Gegenstand nicht etwa beseelt sei." iv.
beschrieben. Aus der oben genannten Definition folgt also, dass die Verlebendigung von eigentlich leblosen Gegenständen etwas Vertrautes, Heimisches sein müsste. Und wirklich ist diese Situation aus dem Kindesalter bekannt. Gegenstände zu beleben ist klarer Bestandteil vieler Kinderspiele. Puppen und Kuscheltiere können in diesen Spielen klar reden und werden als lebende Objekte verstanden.

Im Erwachsenenalter werden diese Spiele aber als kindisch abgestempelt und damit verdrängt. Trifft man nun wieder auf diese ehemals vertrauten, heimischen „lebenden Gegenstände“, werden sie unheimlich.

In „Colony“ sind aber die Gegenstände nicht nur deswegen Angst einflößend, weil sie lebendig werden, sondern weil sie zusätzlich noch versuchen die Menschen umzubringen, was ihnen ja auch am Ende der Kurzgeschichte gelingt.

Besessenheit und Besetzung

Auffällig ist der Zeitpunkt, ab dem die „feindliche“ Lebensform des Planeten die Menschen angreift. Kurz bevor beschlossen wird, mit der Umsiedlung auf dem Planeten anzufangen, kommt es erst zu den Angriffen. Gleich zu Beginn bemerkt Lieutenant Friendly:
"Three weeks on this planet and we've yet to find a harmful life form." v.

Doch was könnte der Auslöser gewesen sein?

Um diese Frage zu klären, muss man sich klar machen, über was die beiden Männer sich in dieser Szene unterhalten. Hauptthema der Unterhaltung sind natürlich die „Picnickers“, die bald auf diesem Planeten erwartet werden und wie sie wohl mit dem Planeten umgehen werden.
"Yes, the picnickers (...) And all of them ready to come in and cut down the trees, tear up the flowers, spit in the lakes, burn up the grass." vi.

Man kann also die These aufstellen, dass die Lebensform wohl auf die bevorstehende Kolonialisierung und die damit einhergehende Zerstörung des Planeten reagiert. Ist es also möglich, dass diese Einzeller ganz friedlich neben den Menschen weiter existiert hätten und es nie zu einem Angriff gekommen wäre, wenn nicht die Besetzung und Vernichtung des Planeten hätte verhindert werden müssen?

Wenn das der Fall ist, müsste man also eher davon ausgehen, dass nicht die Alltagsgegenstände unter einer Form von Besessenheit leiden, sondern die Menschen davon besessen sind, diesen Planeten zu besitzen.


Quellen:

i. Dick, Philip K., Colony, New York: Citadell Press 1987. S. 351
ii.
Freud, Sigmund, "Der Dichter und das Phantasieren" in: Klaus Wagenbach (Hg): Sigmund Freud. Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. Hamburg. 1963. S.169 - 179
iii.
Freud, Sigmund, "Das Unheimliche" in: Klaus Wagenbach (Hg): Sigmund Freud. Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. Hamburg. 1963. S.70
iv.
ebd.
S.53
v.
Dick, Colony, S.347
vi.
ebd. S.348


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