Samstag, 6. Juni 2009

Zur Besessenheit in der Theologie

Das Phänomen der Besessenheit ist nicht selten auch ein wichtiger Bestandteil, nicht nur des christlichen Glaubens, sondern vieler Religionen. Meist wird darunter die Inbesitznahme des menschlichen Körpers durch einen Dämon, eine Gottheit oder eines Geistes verstanden. Und nicht immer wird dieser Zustand als verwerflich empfunden, er wird bei einigen Kulturen sogar künstlich herbeigeführt, um mit höheren Wesen oder Göttern in Kontakt zu treten. Vodoo wäre ein bekannteres Beispiel dafür, aber laut Studien gibt es diese Trance- und Besessenheitszustände in 90% der 488 über alle Welt verteilten Kulturen. Diese Studie lässt erstmal vielleicht die Frage aufkommen, ob es überhaupt möglich und sinnvoll ist, die Menschhheit in exakt 488 Kulturen zu unterteilen, denn ab wann definiert sich eine Gruppe von Menschen als Kultur, oder noch interessanter, wann ist sie es nicht? Das soll nun aber nicht Thema sein, was die Studie aber auf jeden Fall deutlich zeigt, ist, wie weit verbreitet der Glaube an die Besessenheit ist.
Selbst wenn im christlichen Glauben die Besessenheit ein unfreiwilliger und böswilliger Akt der Destruktion darstellt und im Vodoo vielmehr einen erwünschenswerten Zustand, so haben sie doch alle eines gemein: Den Glauben an eine Seele/n, Geist, höhere Macht, welche nicht körpergebunden ist. Diese „Erkenntnis“ klingt erst einmal banal, ist aber nicht unerheblich, denn erst dadurch kann die Besessenheit vonstatten gehen.

„Positive Besessenheit“ oder „Mediumismus“:

Die Besessenheit durch einen herbeigerufenen Geist, Gottheit oder Kraft, welche aber freiwillig für eine bestimmte Zeit inkorporiert wird, um beispielsweise Botschaften aus dem Jenseits oder von den jeweiligen Göttern zu erhalten.
Der Besessene dient quasi als Medium, wobei er ein gewisses Maß an Kontrolle behält, also über Dauer, Zeitpunkt und Verlauf bestimmen kann. ZB.: Vodoo, Schamanismus,...

„Negative Besessenheit“:

Die Inkorporation durch eine Kraft oder einen Dämon, welcher in den meisten Fällen böse ist und die Zerstörung des Besetzten im Sinne hat.
In diesem Falle hat der Besessene jedoch das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben, jede freiwillige Komponente entfällt gänzlich, er wird vollständig beherrscht und fühlt sich ausgeliefert und hilflos.

Besonders diese Art der Besessenheit ist viel diskutiert, da hier immer auch eine Differenzierung zu psychischen Krankheiten wie der Hysterie, Schizophrenie, multipler Persönlichkeit und Epilepsie erfolgen muss, was sehr oft allein schon paradox ist, da die meisten Psychologen und Mediziner dem psychopathologischen Erklärungsmodell wohl immer den Vorzug geben würden, wohingegen die Kirche aber die Existenz von psychischen Störungen nicht mehr leugnet.
Im Mittelalter und bis weit hinein in die Neuzeit war das noch anders, Exorzismen wurden oft leichtsinnig durchgenommen, ohne andere mögliche Erklärungen überhaupt erst zu überprüfen. Nicht selten resultierte dies in dem Tod des „Besessenen“. Heute ist das etwas anders, nicht allerdings was die Häufigkeit von Exorzismen betrifft, lediglich die Strenge der vorhergehenden Untersuchung.
Es gibt bestimmte Kriterien, um eine Dämonenaustreibung vornehmen zu dürfen, vorher muss von einem Arzt eine psychische Ursache ausdrücklich ausgeschlossen werden. Dass dies scheinbar öfter vorkommt als erwartet, beweist die unglaubliche Zahl von 500000 Exorzismen, die jährlich vorgenommen werden. (später mehr zum Exorzismus)

Wann gilt man in der katholischen Kirche als besessen?

Kriterien:

*Krankhafter Zerstörungstrieb und selbstverletzendes Verhalten
*Unerklärliches Verbreiten von Gerüchen (meist Schwefel)
*Levitation (Schweben)
*Ungeahnte körperliche Kräfte, welche eigentlich über das Alter und die Konstitution der betroffenen Person hinausgehen
*Abscheu gegen geweihte Gegenstände und Personen
*Xenoglossie (Fähigkeit eine Sprache zu sprechen, welche nie erlernt wurde)
*Permanentes, oft obszönes Fluchen
*Klopfgeräusche
*Das Hervortreten verschiedener Persönlichkeiten bzw. Dämonen


Wenn man sich diese Kriterien so durchließt, teilt ein skeptischer Geist sie vermutlich nicht selten in zwei Gruppen ein: Dem religiösen Aberglauben zugehörig oder als Indizien einer Krankheit.

Besessenheit im frühen Christentum- Ein kurzer geschichtlicher Exkurs


Im Altertum gibt es einige Legenden und bibliographische Berichte, dass Besessene Stimmen und auch das Verhalten von Tieren nachahmten. Die heilige Paula beispielsweise berichtete von einem für sie schockierenden Erlebnis auf ihrer Pilgerreise nach Samaria/ Palästina, wo die „Kranken“ in den Gräbern der Heiligen „mit den Stimmen von Wölfen heulten, wie Hunde bellten, wie Löwen brüllten, wie Schlangen zischten, wie Stiere brüllten“.
Ein anderes Beispiel schildert Johannes von Ephesos, ein Zeitgenosse des Kaisers Justinus II, in seiner Kirchengeschichte, wo er sich über den in späten Jahren wahnsinnig gewordenen Kaiser folgendermaßen äußert: „Daher habe er die Stimmen der Tiere gebraucht und wie ein Hund gebellt und bald wie ein Ziegenbock geblökt, bald wie eine Katze geschrieen, bald auch wie ein Hahn gekräht und vieles getan, was dem menschlichen Geist fremd ist, was aber vom Fürsten der Finsternis stammt, dem er übergeben war.“ Johannes v. Ephesos war der Meinung, jene Umnachtung sei die gerechte Bestrafung des erzürnten Gottes, der auf diese Weise sämtliche Schandtaten des Kaisers verurteilte.

Aus diesen Überlieferungen wird ersichtlich, dass Besessenheit damals mit Geisteskrankheit gleichgesetzt wurde, zum Gegensatz zur Neuzeit. Heute erfolgt eine penible Differenzierung zwischen Krankheit und dämonischer Besessenheit und weder aus christlicher noch aus medizinischer Sicht würde man sie jemals gleichsetzen. Die Disskussion, welche der beiden Zustände dann tatsächlich vorliegt, fällt dabei sicherlich weniger einig aus.
Im Altertum galt folglich die Erkrankung der Psyche immer auch als Indiz einer Besessenheit, meist als Bestrafung eines sündhaft geführten Lebens. Und mit der Übereinstimmung oder überhaupt erst durch den Auftrag Gottes.
Diese und andere Geschichten lassen die Vermutung zu, dass man damals der festen Überzeugung gewesen sei, der Teufel und seine Komplizen seien vielmehr die Handlanger Gottes als dessen gefürchtete Widersacher. Sicherlich nicht aus Gutmütigkeit, aber doch aus Unterlegenheit.
Der Glaube an das eigenständig handelnde Böse existierte also bis zu einem gewissen Grad noch nicht, es handelte sich bei Besessenheit immer um den Willen Gottes, die Antwort des allmächtigen Schöpfers und Rächers.
Das heißt allerdings nicht, dass die Angst vor den Wahnsinnigen oder den „Rasenden“ wie sie oft genannt wurden oder die Angst davor, sogar selbst von der Krankheit heimgesucht zu werden, geringer war. Im Gegenteil.
Wo heute von Gläubigen oft darüber gerätselt wird, wieso gerade ein bestimmter Mensch von einem Dämon in Besitz genommen wird, benötigte es im Altertum keines Gelehrten, um die Lösung dafür zu finden. Ein frevelhaftes Leben wurde von Gott bestraft. Und seine Peinigung bestand nun einmal darin, dem Herren der Finsternis übergeben zu werden.
Für die Menschen bestand kein Zweifel an diesem Glauben und man kann sich sicherlich vorstellen, dass die Kirche diese Überzeugung sehr zu ihrem eigenen Nutzen gebrauchte. Angst verleiht Macht und Kontrolle.
Diese Vormachtstellung der Kirche kann man durchaus auch als eine, vielleicht weit entfernte, Art der Besessenheit bezeichnen. Schließlich zeichnete sich der Mensch durch das ständige Gefühl der Kontrolle (sei es nun durch Gottes Auge oder die Kirche) und einem gewissen Zustand des Ausgeliefertseins aus. Möglicherweise hatte man über seinen Körper Macht, in sehr eingeschränktem Maße jedoch über seinen Geist.
Man sieht also, dass die Besessenheit auf vielen Ebenen existiert, eine einheitliche Definition zu finden, ist daher oft problematisch.
Eine weitere Unterscheidung zum heutigen Glauben an die Besessenheit lässt sich darin finden, dass der Mensch selten von einem dämonischen Wesen selbst besetzt wurde, sondern von dem Bösen lediglich dazu gezwungen wurde, sich tierisch zu verhalten. Dies erinnert an die Krankheiten Kynanthropie und Lykanthropie, bei denen es sich um psychische Störungen handelt, wo Menschen glauben, in Hunde und Wölfe verwandelt worden zu sein und sich auch dementsprechend verhalten.
In vielen Mythen und Legenden des Altertums ist auch die Sprache von Menschen, die beispielsweise jahrelang als Rind in der Wildnis herumirrten und erst durch die Gnade Gottes von diesem Zustand wieder befreit wurden.
Nun stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, wieso die Besessenheit sich gerade auf diese Weise manifestierte? Wieso zog man stets den Vergleich zu einem außer Rand und Band geratenen Tier?
Vielleicht würde man auch heute noch insgeheim ein wenig an einen tobenden Stier denken, wenn man Zeuge eines epileptischen Anfalls wäre, doch ist es eher unwahrscheinlich, den Menschen tatsächlich für einen Stier zu halten. Natürlich die Zeiten haben sich verändert, jeder weiß heutzutage über psychopathologische Krankheiten Bescheid. Und dennoch. Ganz so einfach dürfte es wohl nicht sein.
Es spielt sicher auch eine Rolle, dass Tiere bis zu einem gewissen Grad immer noch als dem Menschen unterlegen angesehen werden. Sie gehen schamlos ihren Trieben und Gelüsten nach ohne dadurch gleich unter einer Neurose zu leiden, sie gebärden sich oft unkontrolliert und tobend, wenn man sie zu einem bestimmten Verhalten zwingen will. Alles Eigenschaften, die damals wie heute als ungebührend betrachtet werden. So verhalten sich Menschen nicht. So dürfen sie sich gar nicht verhalten, wenn sie der Gesellschaft zugehörig sein wollen. Jedes Abweichen der Norm wird kritisch beäugt, nicht selten heißt es schließlich auch „Was für ein Tier!“ oder „Was ist nur in dich gefahren!?“
Und auch wenn in der heutigen Zeit die Besessenheit nicht mit Verwandlung in ein Tier assoziert wird, sondern mit der Inbesitznahme des Körpers durch einen bösen Geist, so hat sich doch zumindest etwas noch nicht geändert:

Verhalten Menschen sich anders als von der Mehrheit erwartet, den gesellschaftlichen Vorstellungen zuwider oder auf für uns befremdliche und unerklärliche Weise, erfährt der Erfindungsreichtum des Menschen eine Beförderung in unendliche Weiten.
Der Serienmörder von nebenan, derjenige, der Dutzende Kinderseelen auf dem Gewissen hat, sei von Satan besessen. Schließlich wäre er immer so nett gewesen, so hilfsbereit. Nein, so ein Mensch sei kein Mörder. Das kann doch nicht sein.
Manch anderer bezweifelt vielleicht die Existenz des Teufels, also leidet der Mörder unter einer psychischen Krankheit, vielleicht Schizophrenie, vielleicht sogar unter einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Alles sehr klinische Ausdrücke. Damit lässt sich eine sachliche Diskussion führen über ein Thema, welches jeden emotional beschäftigt.
Für welches Erklärungsmodell man sich letztendlich auch entscheiden mag, Fakt bleibt, jeder wird versuchen, eine Erklärung zu finden für das Verhalten eines Menschen, welches uns als bestialisch oder einfach unbegreiflich erscheint. Darin besteht die Natur des Menschen. Denn Unerklärliches oder Dinge, die wir nicht begreifen können, machen dem Menschen Angst. Da ist es manchmal schon einfacher an den Teufel zu glauben oder den Menschen auf eine psychische Krankheit zu reduzieren, denn so hat man diese Menschen von der übrigen Menschheit abgekoppelt, sie in ein mentales Gehege gesteckt, wo man sie wie ein exotisches Tier im Zoo betrachten kann. Wo man jederzeit die Kontrolle hat. Und irgendwann (hoffentlich!) auch vergisst, dass der Fremde hinter dem Gehege noch immer ein Mensch ist. Dass Menschen, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick auch sein mögen, sich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden.

Quellen:
* Amorth, Gabriele, Exorzisten und Psyvhiater, Stein am Rhein: Christiana Verlag 2002.
* Ralph M., Becker, Trance und Geistbesessenheit im Candomblé von Bahia, Hamburg 1995.
* Freud, Sigmund, Zwei Fallberichte. Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia. Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrundert, Frankfurt am Main: Fischer 2007.


Dienstag, 2. Juni 2009

Philip K. Dicks „Colony“. Ein Interpretationsversuch anhand von Peter Sloterdijk.

Im Ersten Weltkrieg, genauer am 22. April 1915, wurde von der deutschen Armee erstmals Chlorgas im Kampf eingesetzt. Peter Sloterdijk nimmt diesen Punkt in der Kriegsgeschichte als Basis für sein sogenanntes „atmoterroristisches Muster.“ Dieses Muster ist nach Sloterdijk die Erklärung für jeglichen Terrorismus, der auf den menschlichen Lebensraum ausgeübt wird.

Im Folgenden soll, mit Hilfe von Sloterdijks Ausführungen, ein Vergleich zu den Ausprägungen von Terror in „Colony“ gezogen werden. Weiters wird versucht, Parallelen zu unserem Schwerpunkt ‚Besessenheit’ zu finden.
„Daher hat terroristisches Handeln von sich her stets und immer schon einen attentäterischen Charakter – denn zur Definition des Attentates (lateinisch: attentatum, Versuch, Tötungsessay) gehört nicht nur ein heimtückisch überraschendes Zuschlagen aus dem Hinterhalt, sondern auch die maligne Ausnutzung von Lebensgewohnheiten der Opfer.i.
In „Colony“ werden alltägliche, eigentlich leblose Gegenstände gewissermaßen zum Leben erweckt. Ein bösartiges Bakterium, das sich schließlich in seiner Ursprungsform als „jellylike mass“ zeigt, nimmt die Gestalt ebendieser Gegenstände an, nimmt sie in Besitz. Sloterdijk nennt im Zusammenhang mit dem Gaskrieg das lebensnotwendige Atmen, das Menschen zum tödlichen Verhängnis wird, wenn sie mit Chlorgas in Verbindung kommen. Übertragen auf die Angriffe in „Colony“, ergibt sich folgende Gleichartigkeit: Durch das Imitieren der bekannten Gegenstände nutzt das Bakterium das Vertrauen der Menschen in diese aus. So vertraut bspw. Hall darauf, dass ihm sein Mikroskop eine vergrößerte Ansicht eines Objektes zeigen wird, wenn er durch die Okulare blickt. Das Bakterium, welches die Gestalt des Mikroskops angenommen hat, nützt diese Gelegenheit und will Hall erwürgen, schnürt ihm die Luft ab. Weiters versucht das Handtuch, ihn zu ersticken und eine Decke, die sich um ihn wickelt, verweigert Captain Taylor die Möglichkeit zu atmen.
„[...] daß aller Terror seinem Verfahrensprinzip nach atmoterroristisch verfaßt ist. Er hat die Form des attentäterischen Schlags gegen die akuten umweltlichen Lebensbedingungen des Feindes, beginnend mit dem Vergiftungsangriff auf die unmittelbarste Umgebungsressource eines menschlichen Organismus, seine Atemluft.“ ii.
Dieses Prinzip trifft in etwa auf die oben genannten Beispiele zu. Der Unterschied liegt darin, dass in „Colony“ keine Giftgase zum Einsatz kommen, sondern diese von den Objekten ersetzt werden, die den Menschen die Luft zum Atmen nehmen und sie fast zwingen, zu ersticken. Auf die weiteren Angriffe trifft das „atmoterroristische Muster“ kaum mehr zu: knochenbrecherische Gürtel, Sessel und Fußmatten, Handschuhe, die zum Suizid führen und Auto, Raumschiff und Kleidungsstücke, die sich Menschen einverleiben, sind weitere Formen des Terrors und Tötungsapparates auf dem Planeten. Immer handelt es sich jedoch dabei um Objekte, an die sich der Mensch im Laufe der Zeit gewöhnt hat und in ihre Funktion vertraut, was ihm schließlich Unheil bringt.

Die Menschen setzen jedoch gleich zu einem Rückschlag an, um den Organismus zu bekämpfen: Auch hierbei wird eine Form des Atmoterrorismus angewendet, diesmal in der Manier der Gasangriffe im Ersten Weltkrieg: Die Forscher bekämpfen die unbekannten Lebensformen mit Arsin, einem Giftgas, das für Menschen beim Einatmen tödlich ist, weswegen sie sich mit Masken schützen müssen. iii. Tatsächlich wirkt dieses Gift auch bei diesen Protozoen. Im Verlauf der Geschichte wird schließlich auch die Frage geklärt, ob jene intelligent sind: Versteht man Intelligenz als „Klugheit, Auffassungsgabe, Fähigkeit des Begreifens, Urteilens [...]“ iv., was, vor allem in der Psychologie, dem Menschen allein zugesprochen wird, so erscheinen die Protozoen immer menschenähnlicher: Diese Lebensform erkennt (neben ihrer menschlichen Verwundbarkeit) den Plan der Menschen, zurück zu Terra zu flüchten und imitiert deshalb ihr Raumschiff, um die gesamte Besatzung (so kann man vermuten) aufzufressen, zu inkorporieren. Da der Planet selbst fruchtbar und vielfältig wie die Erde ist, scheint hier außerdem ein Pendant zum menschlichen Lebensraum geschaffen worden zu sein. Dies steigert vielleicht zusätzlich die Angst der Menschen, dass sie die Kontrolle über ihre Umwelt verlieren und eine intelligentere Form von ihrem Planeten Besitz ergreifen könnte. Als einzigen Ausweg sehen sie die Flucht. Es kann gefolgert werden, dass dadurch die Angst vor der Besetzung der Erde Realität wird, da die außerirdischen Lebensformen die Erde in Beschlag nehmen werden.

Zunächst kann vermutet werden, dass mit dem Eingreifen in die Umwelt des fremden Planeten, (im Zusammenhang mit Sloterdijks Ausführungen in „Luftbeben“ sei diese Kolonisierung als Terrorakt bezeichnet), der Anfang für alle weiteren Angriffe gesetzt wird. Peter Sloterdijk beschreibt jedoch,
„[...] dass der einzelne Terrorakt nie einen absoluten Anfang bildet. Es gibt keinen terroristischen acte gratuit, kein ursprüngliches Es-werde des Schrekkens. Jeder Terroranschlag versteht sich als Gegenangriff einer Serie, die jeweils als vom Gegner eröffnet beschrieben wird. Deswegen ist Terrorismus selbst antiterroristisch verfaßt [...] Der Anfang des Terrors ist nicht das ausgeführte Einzelattentat der einen Seite, sondern der Wille und die Bereitschaft von Konfliktpartnern, in der ausgeweiteten Kampfzone zu operieren.“ v.
Nach dieser Erklärung kann also die Absicht der Forscher, den Planeten für Erdenbewohner zugänglich zu machen, als Wille zum Kampf und zur Auseinandersetzung mit anderen Lebensformen bezeichnet werden.

Eben dieser Wille zum Kampf führt im Weiteren zu Nietzsches „Entstehungslehre des Willens zur Macht“. vi. Darin beschränkt er die Triebe des Menschen und somit auch den Menschen selbst, „auf den Willen zur Macht.“ vii. Nietzsche führt aus, dass der Mensch nichts so belassen möchte wie es ist, alles soll verändert, vor allem aber unterworfen und eingenommen, besetzt werden. So ergibt sich in „Colony“ ein scheinbar ewiger Kreislauf. Wenn man beide Lebensformen, Menschen und Protozoa, mit diesem grundsätzlichen menschlichen Trieb charakterisiert, wird es nie ein Ende der Kolonialisierung (oder der Terrorakte) geben. Die neuen Lebensformen werden auf der Erde ihre Macht ausüben, Terra verändern, sie unterwerfen. Schließlich, so dies geschehen ist, kann man nach Nietzsche folgern, dass das Streben nach Macht dazu führt, unbekannte Planeten wiederum besiedeln zu wollen, worauf mit Rückschlägen zu rechnen ist. All dies hat ein Ziel, eine Bedeutung für den Menschen oder menschlich anmutende Lebensformen:
„Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines 'Werks'.“ viii.


Quellen:
i. Sloterdijk, Peter, Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 20.
ii. ebd. S.27.
iii. vgl.: Sloterdijk, Luftbeben, S. 17: "Die blitzartige Entwicklung von Militär-Atemschutgeräten (populär: Liniengasmasken) verriet die Anpassung der Truppen an eine Lage, in der auch die menschliche Atmung im Begriff war, eine direkte Rolle im Kriegsgeschehen zu übernehmen. "
iv.
Der neue Brockhaus 2, Brockhaus, Wiesbaden 1973, S. 675.
v. Sloterdijk, Luftbeben, S. 25.
vi. Zweites Buch: Entstehungslehre des Willens zur Macht. B. Das neue Prinzip. Leben als Wille zur Macht. in: Nietzsche, Friedrich, Nietzsches Werke, Hg. Gerhard Stenzel, 2 Bde., Salzburg/Stuttgart: Das Bergland-Buch 1952, S. 822 (Bd. 1)
vii. ebd.
viii. ebd., S. 823f