Mittwoch, 24. Juni 2009

Der Verlust des Paradieses. John Miltons "Paradise Lost" und Philip K. Dicks "Colony"

Milton veröffentlichte sein episches Gedicht 1667 und damit vor dem Hintergrund einer protestantisch-puritanisch geprägten Zeit in England, in der das Bewusstsein von der Verderbtheit des Menschen von zentraler Bedeutung war und:
„Hieraus erklärt sich das wiedererwachte Interesse für den Sündenfall, [...]“ i.
In Paradise Lost dupliziert Milton allerdings nicht nur auf poetische Weise die biblische Geschichte von der Verführung und dem Fall des ersten Menschenpaares, sondern versucht interpretatorische Erklärungen für das Geschehen zu geben. So entsteht ein eigener Kosmos von Bildern und von Erklärungen, die zum Teil auf dem historischen Hintergrund beruhen, aber auch Miltons persönliche Sichtweisen wiedergeben.

Dass Dicks Kurzgeschichte im Zusammenhang mit der Sündenfalldiskussion gelesen werden kann, soll das folgende Zitat vom Beginn der Geschichte belegen:
„'But the whole planet is harmless. You know I`m wondering whether this is not the Garden of Eden our ancestors fell out of.' 'Were pushed out of.' " ii.
Der Vergleich mit dem Garten Eden, den Major Hall anstellt, ist eine direkte Anspielung auf das biblische Thema und die Erwiderung von Lieutenant Friendly leitet bereits die Diskussion um die Schuldigkeit des Menschen ein, denn sein „were pushed out“ zielt auf ein gewaltsames Einwirken von außen und weniger auf die alleinige Schuld des Menschen.

Überträgt man Miltons epische Bilder vom Paradies und seine Vorstellungen vom Fall der ersten Menschen auf Philip K. Dicks Kurzgeschichte "Colony", lassen sich zunächst markante Übereinstimmungen finden. Das anfängliche Verhalten der Charaktere, ihre Überzeugung davon, dass ein paradiesischer Planet harmlos zu sein hat, die daraufhin als trügerisch entlarvte Idylle und der anschließende Verlust des Paradieses in beiden Handlungssträngen zeigen deutlich die über Jahrhunderte hindurch (und bis in eine fiktionale Zukunft Dicks reichende) Besessenheit des Menschen mit einer durchaus ähnlichen Vorstellung von einem (biblisch anmutenden) Paradies und dessen Verlust. Dennoch gestalten die Autoren den Schluss ihrer Erzählungen auf konträre Weisen. Daher besteht die Absicht dieses Eintrages darin, die Parallelen und Abweichungen zwischen den Vorstellungen der beiden Autoren vom Sündenfall zu beleuchten.

Die Pastorale als Paradies

Die erste Übereinstimmung zwischen Dick und Milton besteht in der Ähnlichkeit der Schilderungen des Paradieses. Beide schaffen eine Idylle und beschreiben die Natur in ihrer ursprünglichen, vom Menschen ungebändigten Schönheit. In den Augen der Dickschen Hauptfigur – Major Hall – ist der Planet Blau ein Abbild des Garten Eden, was auf das „Besetztsein“ oder die „Besessenheit“ der menschlichen Vorstellung mit dem Bild des Paradieses hindeutet.

Roland Hagenbüchle nennt Miltons Schilderungen ein „pastorales Paradies“ und meint weiter über Miltons Paradies:
„Die Natur muss nicht gebändigt, sondern nur gezogen werden; [...] sie ist gesittet und spielerisch.“ iii.
Ein Zitat aus dem vierten Gesang gibt einen Eindruck von Miltons Paradies:

„Both where the morning Sun first warmly smote
The open field, and where the unpierc't shade
Imbround the noontide Bowrs: Thus was this place,
A happy rural seat of various view;
Groves whose rich Trees wept odorous Gumms and Balme,
Others whose fruit burnisht with Golden Rinde
Hung amiable, [...]
[...]; mean while murmuring waters fall
Down the slope hills, disperst, or in a Lake, [...] “ iv.
Die Dicksche Vorstellung vom Garten Eden ist der von Milton fast aufs Detail ähnlich, denn die Natur des Planet Blue ist ebenfalls durch grüne Felder, Wasserfälle, Fruchtbäume und Seen gekennzeichnet:
„Rolling hills, green slopes alive with flowers and endless vines; waterfalls and hanging moss; fruit trees; acres of flowers, lakes.“ v.
Darüber hinaus erscheint die Natur des Planet Blau als eine ebenfalls vom Menschen ungebändigte Landschaft:

„Every effort had been made to preserve intact the surface of Planet Blue – as it had been designeted by the original scout ship, six months earlier.“ vi.
Die trügerische Idylle


Eine weitere Gemeinsamkeit der Texte ist die Darstellung des Paradieses als eine nur scheinbare Idylle, in der bereits zu Beginn beider Texte subversive Elemente wirken.
Bei Milton befindet sich bereits die Schlange selbst unter den spielenden Tieren:
„[...] close the Serpent sly
Insinuating, wove with Gordian twine
His breaded train, and of his fatal guile
Gave proof unheeded; [...] “
vii.
Auch das gemeinsame Mahl von Adam und Eva erscheint als zukunftsdeutend, denn
„to thir supper fruits they fell.“ viii.
Roland Hagenbüchle weist in diesem Zusammenhang auf den Traum Evas aus dem fünften Gesang hin, in den sich der Teufel einzumischen versucht, und sagt über den Traum, er sei:
„das klarste Beispiel von 'type' und 'foreshadowing', er ist die dramatische Antizipation des Falles selbst.“
Des Weiteren betont er das subversive Element in Miltons Paradies, in dem er schreibt:

„Dieser Januscharakter des Paradieses weist auf die Ungesichertheit des 'status integritatis' hin. ix.
Dass die Dicksche Pastorale nur eine oberflächlich friedvolle Welt ist, wird bereist am Anfang der Erzählung verdeutlicht, als unmittelbar an die Aussage Major Halls:

„It`s so – so damn pure. Unsullied.“ x. ,
sein Mikroskop ihn angreift und er auf das Gerät schießen muss, um sein Leben zu retten. Damit offenbart auch die Idylle des Planet Blau die Tatsache, dass die der Schein des Friedlichen trügt. Nebenbei enthüllt das letzte angeführte Zitat nochmals die Affinität des Dickschen Textes zur Sündenfallthematik, denn die Adjektive „pure“ und „unsullied“ lassen sich auch in den Bereich der Jungfrau-Metaphorik einordnen, denn unbefleckt und rein ist sowohl Eva als auch das Paradies zu Beginn der Sündenfallerzählung ebenfalls.


Ignis Fatuus/Das Täuschungselement

Das „Irrlicht“, das den Menschen zur Sünde verführende, ihn täuschende und aus dem Paradies treibende Element taucht in beiden diskutiertet Texten in zwei verschiedenen Variationen auf.

a) Zunächst sollen das Element der Täuschung in Form der Selbsttäuschung des Menschen und seine Angst vor dieser Täuschung erwähnt werden. In Miltons Epos ist dieses Element der Selbsttäuschung freilich auf eine indirekte Weise dem Text immanent. Sichtbar wird diese Immanenz vor dem geschichtlichen Kontext: Dem Puritaner des 17. Jahrhunderts scheint jede sinnlich-fleischliche Regung ein sündhaftes Potential zu haben.
„Diese angespannte Aufmerksamkeit des Puritaners gegenüber allen verdächtigen Willensregungen schlägt manchmal geradezu in Selbstargwohn um, und führt bisweilen zu einem tiefen Misstrauen gegenüber dem eigenen Ich. [...] die geradezu panische Angst vor Selbsttäuschung führt zu einem wahren ignis-fatuus-Komplex, dem nur durch gewissenhafte Lesung der heiligen Schrift, verbunden mit peinlichster Selbstprüfung beizukommen ist.“ xi.
In diesem Kontext erscheint die Beichte ebenfalls als ein probates Mittel eine Selbstprüfung vorzunehmen, um einer Täuschung durch die Sinne und dem Verlust der Kontrolle durch den Verstand beizukommen. Die Furcht vor der Selbsttäuschung findet jedoch auch Eingang in das Epos Miltons, denn den Zustand des ersten Menschenpaares nach dem sie die verbotene Frucht gegessen haben, beschreibt Milton eben durch das „Verdunkeln“ der Vernunft und die Vorherrschaft der Sinne:

„Soon found their eyes how opened, and their minds,
How darkened; [...] “
xii.
Auch in Dicks Colony spielt das Element der Selbsttäuschung eine große Rolle. Nach dem Major Hall von seinem Mikroskop angegriffen wurde, wird angeordnet, dass er sich einem psychischen Test durch einen „robot psyche tester“ unterwirft, der beim Major eine hohe psychische Instabilität diagnostiziert. xiii. Der Roboter in Dicks Kurzgeschichte könnte nun als seine Vorstellung von der zukünftigen Beichtpraxis angesehen werden: Sahen die Puritaner des 17. Jahrhunderts die Beichte als ein Instrument zur Selbstprüfung an, so ist der Roboter in der Dickschen Zukunftsvision ebenfalls ein Mittel, um zu überprüfen, ob Major Halls Ratio nicht einer Täuschung verfallen sei. Darüber hinaus schließt der Major selbst eine Selbsttäuschung nicht aus, denn als er sich nach dem Test unter die Dusche begibt, fragt er sich, ob seine mentale Instabilität das Resultat der Erfahrung oder die Ursache der Erfahrung sei, damit stellt er sich im Grunde die Frage, ob seine Erfahrung der Realität entsprechen könnte und damit als Grund für seinen psychischen Zustand angesehen werden könnte:
„The robot psyche tester had showed his mind was severely disturbed, but that could have been the result, rather than the cause, of his experience. He had started to tell Friendly about it but he had stopped. How could he expect anyone to believe a story like that?“ xiv.
b) Seine zweite Ausprägung findet das täuschende Element in den Personifikationen der Täuschung in den beiden Texten. Obwohl die Personifikationen durchaus unterschiedlicher Natur sind, haben sie doch Gemeinsamkeiten, was ihr Auftreten und das aus ihren Aktionen entspringende Resultat angeht.


In der Dickschen Geschichte erfahren wir, dass das unbekannte Wesen die Menschen dadurch täuscht, dass es organische Gegenstände perfekt nachbilden kann, um die sich in Sicherheit wiegenden Menschen anzugreifen. Im weiteren Verlauf der Erzählung stellen die Charaktere durch einen Laborversuch fest, dass es sich bei diesem Wesen, um eine Art Protoplasma handelt, dass sich unendlich zu teilen vermag. xv.

Der Teufel, die personifizierte Verführung und Täuschung des Menschen in Miltons Paradise Lost, besitzt ebenfalls die Fähigkeit verschiedene Gestalten anzunehmen, so nimmt er im vierten Gesang die Gestalt eines guten Engels an, um ins Paradies zu gelangen „
...that some evil spirit had escaped the deep and passed at noon by his sphere in the shape of a good angel down to paradise,...“ xvi.
und im neunten Gesang verwandelt er sich schließlich in die Schlange, die Eve verführt. Diese Vorstellung Miltons davon, dass die Bösartigkeit eines Wesens von dem Grad seiner größeren oder geringeren Einheit abhängt, drückt Hagenbüchle folgendermaßen aus: „
Der Vergebliche Versuch Satans, aus dem Gefängnis seines Ich auszubrechen, stürzt ihn in eine immer tiefere Unruhe, die sich in seinem unsteten Umherschweifen und in der proteusartigen häufigen Veränderung seiner Gestalt kundtut.“ xvii.

Die Schuldfrage

Die Divergenz zwischen den Vorstellungen Dicks und Miltons setzt an der Schuldfrage an, das heißt, an der Diskussion, ob das Böse aus dem Menschen selbst stammt oder ob der Fall allein durch eine Einwirkung von außen bedingt wurde.

Milton gibt in seinem Epos eine eindeutige Antwort auf diese Frage, für ihn hat das Böse seinen Ursprung im Menschen selbst. Bereits der Traum Evas im fünfen Gesang ist eine Antizipation des Falls, denn der Traum offenbart ihren Narzissmus:
„...Heav'n wakes with all his eyes,/ Whom to behold but thee, ...“
und ihren Zeifel an der Güte Gottes:

„ ...is Knowledge so despis'd? Or envie, or what reserve forbids to taste?“ xviii.
hierdurch deutet Milton an, dass die Sünde ihren Ursprung bereits im Menschen selbst hat:

„Die Bedeutung Satans als Träger und Bringer des Bösen tritt dadurch zurück. Es ist letztlich der Mensch selbst, der sich zu Fall bringt, indem seine potentiell neutralen Anlagen negativ realisiert und damit pervertiert werden.“
Im Hinblick auf die Dicksche Kurzgeschichte ist die Frage zwiespältig zu beantworten. Zunächst erscheint es so, als siedle Dick im Gegensatz zu Milton das Böse als außerhalb vom Menschen liegen an. Zu Beginn korrigiert Friendly seinen Kollegen, als er unterstreicht, dass die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden: „'Were pushed out of.' "Der Passiv im Sprachgebrauch deutet schon auf eine bösartige Fremdeinwirkung auf den Menschen hin. Auch gewinnt man den Eindruck, dass die Menschen ohne Grund von dem Protoplasma angegriffen werden, eine mögliche Ursache wird im Text nicht einmal angedeutet. Dennoch ließe sich Dicks Sicht auch in die Nähe der Miltonschen Interpretation rücken, wenn man sich vor Augen führt, dass das Protoplasma sich erst gegen den Menschen richtet, nachdem Hall und Friendly in ihrem Gespräch angedeutet haben, dass die Kolonialisten, denen sie den Planeten zu überlassen haben, die ursprüngliche Schönheit des „Gartens Eden“ mit aller Sicherheit zerstören werden:
„And all of them ready to come in and cut down the trees, tear up the flowers, spit in the lakes, burn up the grass.“
Erst nachdem die Zerstörung in Aussicht steht und klar wird, dass niemand es zu verhindern suchen wird, entfaltet das Protoplasma seine verheerende Eigenschaft. So scheinen die Menschen auch in diesem Fall die Sünde durch eigenes Verschulden über sich gebracht zu haben, denn die drei Wochen, die sie friedlich, im Einklang mit der Natur auf dem Planet verbracht haben, verliefen ohne jegliche Angriffe:
„Three weeks on this planet and we`ve yet to find a harmful life form.“
Felix culpa oder irreversibler Fall?


Bei der Einordnung der Schlusssequenzen der beiden Texte in die historische Diskussion über die Begründung des Sündenfalls und die damit verbundene Theodizee-Diskussion stehen sich die Erzählungen diametral entgegen.

Milton ist in die lange Tradition der Felix-Culpa-Doktrin von Augustinus
(„Augustinus nennet die Schuld glücklich, weil sie Gott veranlasst, die Erlösung des Menschen durch Christus ins Werk zu setzen.“)
einzuordnen und unterstreicht damit die Besessenheit des Menschen mit dem Verlangen eine positive Begründung für den Fall und die Unbarmherzigkeit Gottes zu finden.
„Der Gedanke, dass ohne Übel das Gute nicht lebendig würde, ist schon on der Stoa zu finden und wird später von den Renaissance Theologen verwendet.“
Gottvater entlässt bei Milton seine gefallenen Geschöpfe ganz im Sinne einer Augustinischen felix culpa aus dem Paradies, denn er prophezeit ihnen ein neues Paradies, dass sie in sich selbst finden werden:

„...: then wilt thou not be loath
To leave his paradise, but shalt possess
A paradise within thee, happier far.“
Im Gegensatz dazu scheint der Dicksche Fall irreversibel und ohne Einblick in eine positive Zukunftsmöglichkeit zu sein. Verlassen bei Milton Adam und Eva das Paradies bekleidet, sich ihrer Schuld bewusst und zur Sühne bereit, laufen bei Dick die Menschen nackt, sich einer möglichen Verfehlung gar nicht bewusst ihrem Tod entgegen:
„From all the buildings, naked men and women were pouring silently toward the ship.“
Selbst als sich die berechtigte Angst im Unbewussten regt wird diese verdrängt; aber auf eine sehr ironische Weise verdrängt: Als die Commandor meint „I`m scared.“ gibt Hall ihr die folgende Antwort: „Forget it. Carry-over from our early childhood.“ Dass er damit durchaus das Überbleibsel aus den Anfängen des Menschen und seinem ersten Sündenfall meinen könnte, scheint Hall nicht bewusst zu sein. Damit vermittelt Dick den Eindruck, dass die Besessenheit des Menschen mit dem Sündenfall und der Suche nach einer positiven Interpretation des Geschehens nichts als ein ignis fatuus ist, ein Irrlicht des Glaubens an eine Vorstellung, die der realen Welt nicht standhält und als krankhafte Besessenheit angesehen werden dürfte. Solange der Mensch auf das nächste Paradies auch wartet, es wird keines kommen.


„They waited and waited. But no one came. “


Quellen:

i. Roland Hagenbüchle, Sündenfall und Wahlfreiheit in Miltons „Paradise Lost“. Versuch einer Interpretation, Bern: Francke 1967, S. 1.
ii. Philip K. Dick, Colony, New York: Citadell Press 1987, S. 347.
iii. Hagenbüchle, Sündenfall und Wahlfreiheit in Miltons „Paradise Lost“. Versuch einer Interpretation, S. 50.
iv. John Milton, Paradise Lost, London: Penguin 2000, Book iv, V. 244-261.
v. Dick, Colony, New York: Citadell Press 1987, S. 347.
vi. Ebd.
vii. Milton, Paradise Lost, Book iv, V. 347-350.
viii. Milton, Paradise Lost, Book iv, V. 331.
ix. Hagenbüchle, Sündenfall und Wahlfreiheit in Miltons „Paradise Lost“. Versuch einer Interpretation, S. 57.
x. Dick, Colony, S. 347.
xi. Hagenbüchle, Sündenfall und Wahlfreiheit in Miltons „Paradise Lost“. Versuch einer Interpretation, S. 5.
xii. Milton, Paradise Lost, Book ix, V. 1053.
xiii. Vgl. Dick, Colony, S. 350.
xiv. Ebd.
xv. Vgl. Dick, Colony, S. 358.
xvi. Milton, Paradise Lost, Book iv, The Argument.
xvii. Hagenbüchle, Sündenfall und Wahlfreiheit in Miltons „Paradise Lost“. Versuch einer Interpretation, S. 66.
xviii. Milton, Paradise Lost, Book ix, V. 1053.

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