Dienstag, 2. Juni 2009

Philip K. Dicks „Colony“. Ein Interpretationsversuch anhand von Peter Sloterdijk.

Im Ersten Weltkrieg, genauer am 22. April 1915, wurde von der deutschen Armee erstmals Chlorgas im Kampf eingesetzt. Peter Sloterdijk nimmt diesen Punkt in der Kriegsgeschichte als Basis für sein sogenanntes „atmoterroristisches Muster.“ Dieses Muster ist nach Sloterdijk die Erklärung für jeglichen Terrorismus, der auf den menschlichen Lebensraum ausgeübt wird.

Im Folgenden soll, mit Hilfe von Sloterdijks Ausführungen, ein Vergleich zu den Ausprägungen von Terror in „Colony“ gezogen werden. Weiters wird versucht, Parallelen zu unserem Schwerpunkt ‚Besessenheit’ zu finden.
„Daher hat terroristisches Handeln von sich her stets und immer schon einen attentäterischen Charakter – denn zur Definition des Attentates (lateinisch: attentatum, Versuch, Tötungsessay) gehört nicht nur ein heimtückisch überraschendes Zuschlagen aus dem Hinterhalt, sondern auch die maligne Ausnutzung von Lebensgewohnheiten der Opfer.i.
In „Colony“ werden alltägliche, eigentlich leblose Gegenstände gewissermaßen zum Leben erweckt. Ein bösartiges Bakterium, das sich schließlich in seiner Ursprungsform als „jellylike mass“ zeigt, nimmt die Gestalt ebendieser Gegenstände an, nimmt sie in Besitz. Sloterdijk nennt im Zusammenhang mit dem Gaskrieg das lebensnotwendige Atmen, das Menschen zum tödlichen Verhängnis wird, wenn sie mit Chlorgas in Verbindung kommen. Übertragen auf die Angriffe in „Colony“, ergibt sich folgende Gleichartigkeit: Durch das Imitieren der bekannten Gegenstände nutzt das Bakterium das Vertrauen der Menschen in diese aus. So vertraut bspw. Hall darauf, dass ihm sein Mikroskop eine vergrößerte Ansicht eines Objektes zeigen wird, wenn er durch die Okulare blickt. Das Bakterium, welches die Gestalt des Mikroskops angenommen hat, nützt diese Gelegenheit und will Hall erwürgen, schnürt ihm die Luft ab. Weiters versucht das Handtuch, ihn zu ersticken und eine Decke, die sich um ihn wickelt, verweigert Captain Taylor die Möglichkeit zu atmen.
„[...] daß aller Terror seinem Verfahrensprinzip nach atmoterroristisch verfaßt ist. Er hat die Form des attentäterischen Schlags gegen die akuten umweltlichen Lebensbedingungen des Feindes, beginnend mit dem Vergiftungsangriff auf die unmittelbarste Umgebungsressource eines menschlichen Organismus, seine Atemluft.“ ii.
Dieses Prinzip trifft in etwa auf die oben genannten Beispiele zu. Der Unterschied liegt darin, dass in „Colony“ keine Giftgase zum Einsatz kommen, sondern diese von den Objekten ersetzt werden, die den Menschen die Luft zum Atmen nehmen und sie fast zwingen, zu ersticken. Auf die weiteren Angriffe trifft das „atmoterroristische Muster“ kaum mehr zu: knochenbrecherische Gürtel, Sessel und Fußmatten, Handschuhe, die zum Suizid führen und Auto, Raumschiff und Kleidungsstücke, die sich Menschen einverleiben, sind weitere Formen des Terrors und Tötungsapparates auf dem Planeten. Immer handelt es sich jedoch dabei um Objekte, an die sich der Mensch im Laufe der Zeit gewöhnt hat und in ihre Funktion vertraut, was ihm schließlich Unheil bringt.

Die Menschen setzen jedoch gleich zu einem Rückschlag an, um den Organismus zu bekämpfen: Auch hierbei wird eine Form des Atmoterrorismus angewendet, diesmal in der Manier der Gasangriffe im Ersten Weltkrieg: Die Forscher bekämpfen die unbekannten Lebensformen mit Arsin, einem Giftgas, das für Menschen beim Einatmen tödlich ist, weswegen sie sich mit Masken schützen müssen. iii. Tatsächlich wirkt dieses Gift auch bei diesen Protozoen. Im Verlauf der Geschichte wird schließlich auch die Frage geklärt, ob jene intelligent sind: Versteht man Intelligenz als „Klugheit, Auffassungsgabe, Fähigkeit des Begreifens, Urteilens [...]“ iv., was, vor allem in der Psychologie, dem Menschen allein zugesprochen wird, so erscheinen die Protozoen immer menschenähnlicher: Diese Lebensform erkennt (neben ihrer menschlichen Verwundbarkeit) den Plan der Menschen, zurück zu Terra zu flüchten und imitiert deshalb ihr Raumschiff, um die gesamte Besatzung (so kann man vermuten) aufzufressen, zu inkorporieren. Da der Planet selbst fruchtbar und vielfältig wie die Erde ist, scheint hier außerdem ein Pendant zum menschlichen Lebensraum geschaffen worden zu sein. Dies steigert vielleicht zusätzlich die Angst der Menschen, dass sie die Kontrolle über ihre Umwelt verlieren und eine intelligentere Form von ihrem Planeten Besitz ergreifen könnte. Als einzigen Ausweg sehen sie die Flucht. Es kann gefolgert werden, dass dadurch die Angst vor der Besetzung der Erde Realität wird, da die außerirdischen Lebensformen die Erde in Beschlag nehmen werden.

Zunächst kann vermutet werden, dass mit dem Eingreifen in die Umwelt des fremden Planeten, (im Zusammenhang mit Sloterdijks Ausführungen in „Luftbeben“ sei diese Kolonisierung als Terrorakt bezeichnet), der Anfang für alle weiteren Angriffe gesetzt wird. Peter Sloterdijk beschreibt jedoch,
„[...] dass der einzelne Terrorakt nie einen absoluten Anfang bildet. Es gibt keinen terroristischen acte gratuit, kein ursprüngliches Es-werde des Schrekkens. Jeder Terroranschlag versteht sich als Gegenangriff einer Serie, die jeweils als vom Gegner eröffnet beschrieben wird. Deswegen ist Terrorismus selbst antiterroristisch verfaßt [...] Der Anfang des Terrors ist nicht das ausgeführte Einzelattentat der einen Seite, sondern der Wille und die Bereitschaft von Konfliktpartnern, in der ausgeweiteten Kampfzone zu operieren.“ v.
Nach dieser Erklärung kann also die Absicht der Forscher, den Planeten für Erdenbewohner zugänglich zu machen, als Wille zum Kampf und zur Auseinandersetzung mit anderen Lebensformen bezeichnet werden.

Eben dieser Wille zum Kampf führt im Weiteren zu Nietzsches „Entstehungslehre des Willens zur Macht“. vi. Darin beschränkt er die Triebe des Menschen und somit auch den Menschen selbst, „auf den Willen zur Macht.“ vii. Nietzsche führt aus, dass der Mensch nichts so belassen möchte wie es ist, alles soll verändert, vor allem aber unterworfen und eingenommen, besetzt werden. So ergibt sich in „Colony“ ein scheinbar ewiger Kreislauf. Wenn man beide Lebensformen, Menschen und Protozoa, mit diesem grundsätzlichen menschlichen Trieb charakterisiert, wird es nie ein Ende der Kolonialisierung (oder der Terrorakte) geben. Die neuen Lebensformen werden auf der Erde ihre Macht ausüben, Terra verändern, sie unterwerfen. Schließlich, so dies geschehen ist, kann man nach Nietzsche folgern, dass das Streben nach Macht dazu führt, unbekannte Planeten wiederum besiedeln zu wollen, worauf mit Rückschlägen zu rechnen ist. All dies hat ein Ziel, eine Bedeutung für den Menschen oder menschlich anmutende Lebensformen:
„Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines 'Werks'.“ viii.


Quellen:
i. Sloterdijk, Peter, Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 20.
ii. ebd. S.27.
iii. vgl.: Sloterdijk, Luftbeben, S. 17: "Die blitzartige Entwicklung von Militär-Atemschutgeräten (populär: Liniengasmasken) verriet die Anpassung der Truppen an eine Lage, in der auch die menschliche Atmung im Begriff war, eine direkte Rolle im Kriegsgeschehen zu übernehmen. "
iv.
Der neue Brockhaus 2, Brockhaus, Wiesbaden 1973, S. 675.
v. Sloterdijk, Luftbeben, S. 25.
vi. Zweites Buch: Entstehungslehre des Willens zur Macht. B. Das neue Prinzip. Leben als Wille zur Macht. in: Nietzsche, Friedrich, Nietzsches Werke, Hg. Gerhard Stenzel, 2 Bde., Salzburg/Stuttgart: Das Bergland-Buch 1952, S. 822 (Bd. 1)
vii. ebd.
viii. ebd., S. 823f


1 Kommentar:

  1. Deinen Artikel finde ich wirklich äußerst aufschlussreich und interessant aufbereitet. Gerade die Parallele, die du zwischen den Lebensformen in "Colony" und dem heutzutage ja doch sehr aktuellen Thema Terrorismus ziehst, ist gar nicht so weit hergeholt, wenn man sich darüber Gedanken macht.
    Terroranschläge als Akt gegen das Vertrauen, das Menschen in alltägliche Dinge setzen- das passt auch zu den anderen Kurzgeschichten von Philip Dick- aus etwas Vertrautem oder auch einfach nur Gewohntem wird etwas Gefährliches, etwas Bedrohliches. Und wenn dem Menschen auch das noch genommen wird, so scheint absolut nichts mehr sicher; aus einer Welt der Paranoia würde eine Welt der berechtigten Paranoia werden. Auch wenn es in der modernen Zeit vielleicht nicht eins zu eins so zugeht wie in Colony, so ist die Thematik doch nicht ganz so weit hergeholt...wie in so vielen Geschichten von Philip K. Dick.

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